Kraft oder Beweglichkeit: Was unsere Gelenke für eine gesunde Haltung wirklich brauchen

Kraft oder Beweglichkeit: Was unsere Gelenke für eine gesunde Haltung wirklich brauchen

Manchmal fühlt sich der eigene Körper an wie eine Mietwohnung, bei der man den Mietvertrag nicht richtig gelesen hat. Alles funktioniert irgendwie, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass hier und da etwas klemmt. Es ist ein bekanntes Szenario: Eine unbedachte Alltagsbewegung, der Griff zur Kiste im obersten Regal, und plötzlich zieht es unangenehm in der Schulter. Es ist kein echter Schmerz, eher ein Gefühl von… Unwilligkeit. Ein steifer Protest des Gelenks, der einen sofort über die eigene Körperhaltung nachdenken lässt.

In solchen Momenten stellt sich die Frage: Was wird hier eigentlich vernachlässigt? In der Fitnesswelt fühlt es sich oft an, als müsste man sich für eine Seite entscheiden: Kraft oder Beweglichkeit. Auf der einen Seite die Powerlifter, die beeindruckende Gewichte heben, sich aber manchmal kaum den Rücken kratzen können. Auf der anderen Seite die Yogis, die sich in alle möglichen Positionen falten, aber vielleicht Schwierigkeiten hätten, eine schwere Wasserkiste in den vierten Stock zu tragen.

Doch ist das wirklich ein Gegensatz? Je mehr man darüber nachdenkt, desto klarer wird, dass die Extreme selten die Antwort sind, wenn es um langfristige Gelenkgesundheit geht.

Die gefährlichen Extreme: Zwischen Instabilität und Steifheit

Der Weg zu gesunden Gelenken ist oft ein Pendeln zwischen zwei Philosophien. Auf der einen Seite steht der Versuch, durch maximale Flexibilität alle Probleme zu lösen. Man stürzt sich ins Dehnen, in der Hoffnung, dass der Körper dann nicht mehr kompensieren müsse. Das Ergebnis ist jedoch oft ernüchternd. Man wird zwar dehnbarer, aber auch instabiler. Zu viel Flexibilität kann zu hypermobilen Gelenken führen, die in ihren Endpositionen keinen Halt mehr finden. Der Schmerz wird nicht besser, er verändert nur seine Art.

Frustriert schlagen viele den anderen Weg ein: pures Krafttraining mit dem Ziel, so schnell wie möglich Rückenmuskulatur aufzubauen. Der Gedanke dahinter: Wenn nur genug Muskelmasse da ist, nimmt das die Last von den Gelenken. Man wird stärker, aber oft auch steifer. Die neu gewonnene Muskulatur kann zu einer Enge führen, die die Beweglichkeit einschränkt. Ein häufiges Resultat ist der Verlust an Mobilität im Sprunggelenk, was den Körper zwingt, dies bei jeder Kniebeuge durch eine ungesunde Einwärtsdrehung des Knies und der Hüfte auszugleichen. Die Folge sind nicht selten Schmerzen im unteren Rücken, weil die Lendenwirbelsäule kompensieren muss. Ein Problem wurde gegen ein anderes getauscht.

In beiden Szenarien ist das Ergebnis dasselbe: erhöhter Verschleiß der Gelenke.

Die Suche nach dem „Sweet Spot“ für eine gerade Haltung

Die eigentliche Gefahr liegt also nicht in der Kraft oder der Beweglichkeit an sich, sondern in der einseitigen Verfolgung eines Ziels. Ein gesundes Gelenk braucht beides: Stabilität durch Kraft und die Freiheit, sich in seinem vollen Radius zu bewegen. Wer seine Rückenmuskulatur stärken will, sorgt für ein schützendes Korsett um die Wirbelsäule. Das ist die Grundlage für eine gerade Haltung. Fehlt diese Kraft, kann eine saubere Führung der Gelenkpartner nicht mehr gewährleistet werden.

Gleichzeitig braucht ein Gelenk aber auch seinen vollen Bewegungsumfang. Wenn die Mobilität fehlt, entstehen Ausweichbewegungen. Der Körper ist ein Meister der Kompensation. Wenn die Hüfte zu unbeweglich ist, muss der untere Rücken die fehlende Bewegung ausgleichen – oft mit schmerzhaften Folgen. Das Prinzip ist einfach: Use it or lose it. Gelenke, die nicht regelmäßig ihren vollen Bewegungsumfang nutzen, verlieren ihn.

Die Lösung liegt also darin, einen „Sweet Spot“ zu finden – den Punkt, an dem du gerade genug Kraft hast, um deine Gelenke zu stabilisieren, und gerade genug Beweglichkeit, um Kompensationen zu vermeiden und eine gesunde Haltung zu fördern.

Raus aus der Komfortzone

Es ist menschlich, dass man sich gerne dem widmet, was einem leichtfällt. Wer von Natur aus beweglich ist, fühlt sich in einer Yogastunde wohler. Wer leicht Muskeln aufbaut, bleibt lieber im Kraftraum. Man erhält ein Gefühl der Bestätigung, fast eine Art Sucht nach dem Gefühl des „Pumps“ oder der tiefen Dehnung. Dabei wird oft vergessen, dass das eigentliche Wachstum genau dort stattfindet, wo man sich unwohl fühlt – im Gegenteil dessen, was man normalerweise tut.

Ein konkreter Tipp integriert dieses Prinzip direkt in den Alltag: die Konzentration auf die Qualität der Bewegung beim Krafttraining.

Konkreter Tipp: Führe deine Kraftübungen immer im vollen, für dich schmerzfreien Bewegungsradius aus. Diese Methode gehört zu den effektivsten Übungen zur Stärkung der Rückenmuskulatur, weil sie Kraft und Mobilität zugleich schult. Nimm bei der Kniebeuge lieber etwas weniger Gewicht und gehe dafür so tief, wie es deine Beweglichkeit zulässt, ohne dass der Rücken rund wird. Beim Rudern am Kabelzug, strecke die Arme am Ende bewusst ganz aus und ziehe die Schulterblätter am höchsten Punkt der Bewegung bewusst zusammen.

Diese kleinen Anpassungen machen dein Krafttraining automatisch auch zu einem Mobilitätstraining. Du forderst deine Gelenke auf, ihren vollen Radius unter Last zu nutzen – und das ist der wohl beste Weg, um sie gleichzeitig stark und geschmeidig zu halten und deine Haltung zu verbessern.

 


 

Quellen:

[1] Gottlob, A. (2017). Differenziertes Krafttraining mit Schwerpunkt Wirbelsäule (4. Aufl.). Elsevier, Urban & Fischer.

[2] Waragai, R. (2025). "Strength vs. Flexibility: What's More Important for Long-Term Joint Health?"

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